
Pflegegradbegutachtungen – Eine zweiteilige Einführung (Teil I)
Teil I– Allgemeine Hinweise zur Begutachtung
Teil II – Tipps zur Begutachtung
[Disclaimer: Die Alzheimergesellschaft M-V gibt keine Rechtsberatung. In den folgenden Ausführungen geben wir allgemeine Hinweise zur Pflegebegutachtung, die individuelle Gegebenheiten nicht berücksichtigen.]
Seit Einführung der Pflegeversicherung 1994 müssen Menschen, die Zugang zu Leistungen der Pflegeversicherung benötigen, zunächst begutachtet werden. Diese Begutachtung wird durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (kurz: MD1) durchgeführt.
Dafür ist es zunächst erforderlich, einen Antrag an die eigene Pflegekasse2 zu stellen. Der Antrag kann i. d. R. formlos per Anschreiben oder einem Telefonat gestellt werden. Die Pflegekasse prüft, ob die Anspruchsvoraussetzung erfüllt sind. Dies meint vor allem die Versicherungszeit, denn es ist nötig, dass man mindestens zwei Jahre innerhalb der letzten zehn Jahre in die gesetzliche Pflegeversicherung eingezahlt hat.
Sind die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt, erhält der Versicherungsnehmer einen Antrag von der Pflegekasse. Dort muss entschieden werden welche Pflegeleistungen beantragt werden sollen. Eine wertvolle Hilfestellung beim Ausfüllen des Antrages gibt es von der Verbraucherzentrale unter:
Das ausgefüllte Formular muss dann wieder zur Pflegekasse zurückgeschickt werden, welche den Antrag auf Richtigkeit und Vollständigkeit prüft. Im nächsten Schritt beauftragt die Pflegekasse dann den MD zu einer Begutachtung. Klassischerweise finden Pflegegradbegutachtungen in der eigenen Häuslichkeit statt. Der MD entsendet hierfür examinierte Pflegefachkräfte, die extra für eine Begutachtung geschult wurden.
In den letzten Jahren – und insbesondere zur Corona-Pandemie – setzt der MD verstärkt auf die telefonische Begutachtung. Dafür erhält der / die Antragstellende einen Fragebogen per Post, der nicht zurückgesandt werden darf, sondern als Grundlage für das Begutachtungstelefonat dient. In diesem Telefonat möchte der MD zunächst mit der antragstellenden Person selbst sprechen, um sich einen Eindruck darüber zu verschaffen, wo die konkreten Herausforderungen im Alltag liegen. Ist ein Gespräch von vorneherein nicht möglich oder stellt sich im Verlauf heraus, dass die antragsstellende Person erhebliche Schwierigkeiten mit der Verständigung hat, übernimmt i. d. R. der / die Angehörige(n).
Übrigens: Das bisher beschriebene Verfahren ist bei Privatversicherten Personen nahezu identisch, nur dass hier die private Pflegeversicherung adressiert werden muss. Diese beauftragt dann nicht den MD, sondern einen privaten Prüfdienst namens Medicproof für die Begutachtung.
Was wird bei der Pflegegradbegutachtung eigentlich bewertet?
Im Jahre 2017 fand (intensiver nach wissenschaftlicher Begleitung) eine gesetzlich geregelte Neu-Definition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs statt. Vorher waren die Begutachtungsmerkmale eher defizitorientiert – bspw. mit Fragen wie „Was kann der / die Pflegebedürftige nicht?“
Mit Inkrafttreten des Pflegestärkungsgesetz II (PSG II), verfolgt die Bewertung von Pflegebedürftigkeit einen ressourcenorientierten Ansatz3. Es wird also danach gefragt, was kann der / die versicherte Person an alltäglichen Aufgaben noch bewältigen und wie kann sie ihre Belastungen im Alltag kompensieren? Der MD selbst schreibt dazu:
„Im Mittelpunkt der Pflegebegutachtung steht die Frage, wie selbstständig die pflegebedürftige Person bei der Bewältigung ihres Alltags ist: Was kann sie und was kann sie nicht mehr? Und wobei braucht sie Unterstützung?4“
Dementsprechend wurde der Prüfbogen (das Neue Begutachtungsassessment – kurz NBA) angepasst. Im nachstehenden Schaubild sind die Kategorien zu sehen, welche für die Begutachtung maßgebend sind. Dabei fällt auf, dass diese unterschiedlich gewichtet sind.

Seit der Einführung des NBA liegt der Fokus stärker auf den eingeschränkten Alltagskompetenzen – sprich der kognitiv bedingten Hürden durch bspw. Demenz. Dies äußert sich zum einen direkt durch das Modul 2 „Kognitive und Kommunikative Fähigkeiten“ und Modul 3 „Verhaltensweisen und psychische Problemlagen“. Indirekt spielt Demenz aber auch in den andere Modulen Selbstversorgung (Modul 4), Umgang mit krankheitsbedingten Anforderungen (Modul 5) und Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte (Modul 6) eine wesentliche Rolle. Damit ist Demenz kein Sonderfall mehr, vielmehr spielt es eine zentrale Rolle bei der Bewertung von Pflegebedürftigkeit.
Häufig moniert wird, dass die mangelnde Fähigkeit den eigenen Haushalt zu führen bei der Begutachtung nicht so sehr ins Gewicht fällt. Begründet wird dies damit, dass sich das Begutachtungsassessment hauptsächlich auf pflegebezogene Aspekte fokussiert. Die Haushaltsführung kann durch Angehörige oder externe Firmen abgedeckt werden. Dies ist auch der grundsätzliche Sinn der Pflegeversicherung, die 1994 als „Teileistungsprinzip“ eingeführt wurde. In der öffentlichen Wahrnehmung wird dieser wesentliche Aspekt nicht selten ausgeklammert. Von vorneherein sind An- und Zugehörige bzw. Nachbarn gefordert bei der Pflege zu unterstützen, da Geld- und Sachleistungen in den meisten Fällen nicht ausreichen, um den Bedarf an Hilfen zu decken.
Trotz dessen können haushaltsnahe Dienstleistungen durch den Entlastungsbetrag (§ 45b SGB XI) über einen Pflegedienst oder der Nachbarschaftshilfe abgerechnet werden und halten somit indirekt Einzug in die Bewertung von Pflegebedürftigkeit.
Wie geht es nach der Begutachtung weiter?
Nachdem die zuständige Prüfkraft die Begutachtung in der Häuslichkeit oder am Telefon durchgeführt hat, wird das Gutachten an die zuständige Pflegekasse geschickt. Diese stellt den darin errechneten Pflegegrad aus oder erklärt, dass kein Pflegegrad zustande kommt, weil der / die Versicherte die Herausforderungen im Alltag noch weitestgehend selbstständig bewältigen kann.
Gegen den Bescheid kann innerhalb von vier Wochen Widerspruch eingelegt werden, sollte man mit dem Ergebnis nicht einverstanden sein. Im Falle eines Widerspruchs muss der MD die Nachbegutachtung in der Häuslichkeit des / der Versicherten durchführen. Zudem muss der Gutachter bzw. die Gutachterin eine andere als diejenige Person sein, welche die erste Begutachtung durchführte.
Was generell bei der Begutachtung zu berücksichtigen ist und wie man sich gut auf einen Begutachtungstermin vorbereiten kann, wird im Teil II unserer zweiteiligen Serie „Pflegegradbegutachtungen“ erläutert.
1 vormals MDK
2 Die Pflegekasse ist immer auch die eigene Krankenkasse (z. B. die AOK Nord-Ost)
3 zusätzlich veränderten sich die bisher gängigen drei Pflegestufen in fünf Pflegegrade
4 https://md-bund.de/fileadmin/dokumente/Pressemitteilungen/2025/2025_06_12/2025_06_12_FAQ_Pflegebegutachtung.pdf (Zugriff: 14.07.2025)
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