Zukunft Alter - mit dem Vergessen gut leben!
Anlässlich des Woche der Demenz lud das Kompetenzzentrum der Deutsche Alzheimer Gesellschaft Landesverband Mecklenburg-Vorpommern zum digitalen Fachtag am 21.09.2023 von 10 – 15 Uhr ein.
Die Alterung der Gesellschaft und die Versorgungsstrukturen stellen uns vor große Herausforderungen und erfordern eine ganzheitliche Herangehensweise. Es verlangt ein Umdenken, um die Frage zu beantworten: „Wie wollen wir in Mecklenburg-Vorpommern altern?“. Dabei rücken auch Fragen des Umgangs mit Demenzerkrankten und die Schaffung von demenzsensiblen Lebensräumen und für ein freudvolles und integriertes Leben in den Fokus.
Zusammenfassung
Die Gestaltung des Fachtages als Online-Format nutzten einige Initiator:innen in Mecklenburg-Vorpommern, um diesen zu streamen und in einen lokalen Veranstaltungsrahmen zu setzen. Das Kompetenzzentrum erreichten 195 Anmeldungen, die auch im Nachhinein Zugang zu den Präsentationen und Aufzeichnungen über den Downloadbereich haben. Lokal waren etwa 200 Personen zugeschaltet.
Somit startete ein breites Publikum in den ersten Teil des Fachtages unter der Moderation von Sina Jankowiak, der Chatkoordination durch Marina Stark-Drenkhahn und der technischen Betreuung durch Mareike Gerstmann.
Prof. Dr. Stephan Teipel vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen am Standort Rostock eröffnete die Vortragsreihe mit einem spannenden Einblick in die letzten drei Jahren der Entwicklung einer neuen Behandlungsmöglichkeit der Alzheimer Krankheit durch eine langfristige wiederholte Gabe von Antikörpern gegen das sogenannte Amyloid-Eiweiß, dem eine ursächliche Rolle für die Entstehung der Erkrankung zugeschrieben wird. In den Jahren 2021 und 2023 wurden die ersten zwei Antiköper bereits in den USA zugelassen. Für das Jahr 2024 wird die Zulassung mindestens eines Antikörpers auch in Europa geplant. Der Professor erläuterte erste Wirksamkeitsstudien, Chancen und Herausforderungen der neuartigen Behandlung. Einer dieser Aspekte ist die zwingende Regelmäßigkeit der Medikamentengabe, sowie die Abwägung zwischen Reduzierung der Ablagerung und den Nebenwirkungen. Offene Punkte sind darüber hinaus die Dauer der Medikamentengabe und die langfristige Verträglichkeit. Dennoch ist es eine Hoffnung, denn die verschiedenen Studien zeigen zwar einen geringen, aber realen Effekt auf die Ablagerungen. Eine Zukunft ohne Alzheimer? Nein, das ist zu diesem Zeitpunkt eine Utopie.
Aber wie sieht denn die Zukunft aus? Sind es bei steigender Lebenserwartung eher gesunde Jahre, die uns erwarten oder nur zusätzliche Jahre in Krankheit. Professor Dr. Gabriele Doblhammer von der Universität Rostock zeigte zu diesem Thema räumliche Tendenzen auf und stellte einen deutlichen Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland heraus, sowie mögliche Modelle der Gesundheitsverläufe. Sie erläuterte interessante Verbindungen zwischen den räumlichen Mustern der Verbreitung von Demenzerkrankungen und der historischen Säuglingssterblichkeit. Schlussendlich zeigte sie weitere Faktoren auf, die eine Demenzerkrankung und Sterblichkeit begünstigen, sodass deutlich wurde: Gesundheit im Alter ist das Ergebnis eines Prozesses; also vieler Stationen und Einflüsse im Leben.
Eine steigende Lebenserwartung bringt nicht nur persönlich verschiedene Möglichkeiten und Herausforderungen, sondern auch für das Gesundheitssystem, das gesellschaftliche Zusammenleben und politische Regulierung. Daniel Lichy von der Landesfachstelle Demenz der Deutschen Alzheimer Gesellschaft LV MV hat genau diese in seinem Vortrag „Dasein und Bleiben“ beleuchtet. Der mit dem demografischen Wandel und der expandierten Lebenserwartung einhergehende Pflegebedarf in Mecklenburg-Vorpommern stellt die Kommunen vor die Aufgabe, Fragen der Teilhabe, Versorgungsstrukturen und eine lebenswerte und sorgende Umgebung zu beantworten. Ganz spezifisch und zum Teil kleinräumlich müssen bereits existierende Strukturen ausgebaut und passende neue Angebote initiiert werden. So entstehen nachhaltig Orte des guten Miteinanders, die die alternde Bevölkerung in die Mitte der Gesellschaft holt und nicht an den Rand drängt.
An dieser Stelle wurde der erste Teil zur „Zukunft des Alters“ abgeschlossen.
An die Mittagspause schloss sich das Thema „Appetithäppchen für den Kopf“ an und leitete den zweiten Teil des Fachtages ein, der sich getreu dem Motto dem guten Leben widmete. Dazu gehört eine gesunde und nahrhafte Ernährung im Alter, insbesondere für Menschen mit Demenz. Wie ist diese zu realisieren? Was ist gut und was sollte man vermeiden? Bärbel Ahrens vom Vorstand der Deutschen Alzheimer Gesellschaft MV zeigte hierfür ganz praktisch zwei Beispielrezepte, die schnell und unkompliziert gesunde Abwechslung auf den Teller bringen. Ergänzt wurden diese Hinweise mit einem Ausschnitt aus der Show „City Cooking“ des Lokalsenders tv.rostock. Diese wurde im Juli ausgestrahlt und zeigte Frau Ahrens mit einem Koch und Restaurantbesitzer aus Rostock. Sie bereiteten gemeinsam ein sommerliches Rezept zu und unterhielten sich nicht nur über Ernährung, sondern auch den Umgang und Hilfsangebote für Menschen mit Demenz und Ihre Angehörigen.
Ebenfalls die sinnliche Wahrnehmung des Lebens ansprechend, übernahm Sabine Uhlig als Kulturgeragogin und gab den Teilnehmenden Einblicke in die dialogische Kunstbetrachtung mit Menschen mit Demenz. Kunst zu produzieren oder sie zu erfahren, birgt eine besondere Art der Anregung, in der Sie Möglichkeitsraum erhalten, in dem ihre Lebenserfahrung, emotionale Tiefe und Phantasie zum Tragen kommen können; sie also ihre Kompetenzen erleben und für einen Moment ihre Defizite vergessen. Besteht die Möglichkeit, diese Erfahrung mit den Angehörigen gemeinsam zu erleben, verbessert es die Beziehungsgestaltung. Mögliche Reibungspunkte, Überforderung und Hierarchie werden aufgelöst und treffen sich in einer positiveren Stimmungslage auf Augenhöhe wieder. Frau Uhlig endete ihre eindrücklichen Erfahrungen mit Tipps für die Häuslichkeit und gab Betroffenen und allen anderen Anregungen zum gemeinsamen Ausdruck über das Kunsterleben. Sie zeigte klar auf, welche Voraussetzungen für öffentliche Angebote geschaffen werden müssen und verband sie mit praktische Tipps für Museen und andere Einrichtungen.
Zum Nachdenken auffordernd, schloss sich der thematische Bogen des Fachtages mit der Gesprächsrunde zum Thema „Endstation Heim?“. In der Runde befanden sich unterschiedliche Expertinnen und Experten. Dazu zählt Martin Weigel als Angehöriger. Seine Mutter ist an einer Demenz erkrankt und befindet sich stationärer Pflege in Neubrandenburg. Lars Krychowski sprach als Einrichtungsleiter einer solchen Einrichtung. Aus dem ambulanten Bereich der Versorgung sprach Janine David vom Pflegedienst Hollstein aus Wismar. Eine alternative Wohnform für Menschen mit Demenz als WG vertrat Margaret Fromm-Ehrich vom Augustenstift in Schwerin.
Alle Beteiligten einigten sich, darauf, dass ein selbst bestimmtes Leben die Voraussetzung für ein gutes Leben im Alter sei. Lars Krychowski konkretisierte das in einer finanziellen Selbstbestimmung und verwies auf die Grenzen der Budgetierung und der Höhe des Eigenanteils bei der Versorgung im Pflegefall. Als Angehöriger unterstich Herr Weigel, dass Selbstbestimmtheit eine Grenze fände, da man früher oder später nicht mehr allein wohnen könne und die Angehörigen, gerade wenn Sie in Arbeit sind, zu stark belastet seien. Eine Unterbringung in einer pflegenden Einrichtung ermöglicht Angehörigen den Spagat zwischen Sorge und eigenem Leben.
Die stationäre Versorgung böte, wenn auch einhergehend mit der Einschränkung der Selbstbestimmtheit unter anderem den Vorteil eines strukturierten Alltags und einer Verlässlichkeit, die, erstmal akzeptiert, den Betroffenen Hilfe und Sicherheit biete.
Nicht stationäre Angebote ermöglichen hingegen eine Anpassung an die aktuelle Situation, so Frau Fromm-Ehrich. Verschiedenen Hilfsstrukturen wie Kurzzeitpflege, Tagespflege oder ambulante Pflege seien notwendig, um die steigende Zahl der pflegebedürftigen Menschen aufzufangen. Das heißt, es sei ein zwingendes Ziel, so lange wie möglich zu Hause versorgt zu werden. Das zeige sich auch in der Altersstruktur der Bewohner:innen selbst, so Krychowski. Frau David sieht eine hohe Entlastung der Angehörigen durch individuelle ambulante Hilfe. Die Nähe und Zusammenarbeit mit den Angehörigen sei für die ambulante Pflege ein großer und dankbarer Bereich. Die Aufklärung über diese Möglichkeiten scheinen jedoch stark unterschiedlich zu sein. Die Gesamtsituation ist stets zu beachten und Informationen über Hilfs- und Teilhabesysteme seien auch über die Pflegestützpunkte zu suchen.
Betreuende Leistungen seien auch im stationären Bereich möglich, so Herr Krychowski. Er erzählte beispielhaft von Hühnern im Hof seiner Einrichtungen und von regelmäßigen Fahrradtouren, die das Leben dort bunter gestalten. Der Mix aus Betretung und Pflegedienstleistung erläuterte Frau Fromm-Erich in der Arbeit der Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz in Schwerin. Es sei eine Alternative zum einsamen Wohnen und lege Fokus auf das Praktizieren des Alltags und das Anregen zu Tätigkeiten zum Erhalt der Ressourcen von Erkrankten.
Auch Abrechnungsmodalitäten, baulichen Voraussetzungen und Kapazitäten der Unterbringung für Betroffene sind Bestandteil einer Diskussion um die Ausgestaltung von Wohnmöglichkeiten für pflegebedürftige Demenzerkrankte. Ein bedeutender Teil der Versorgung, insbesondere in der Betreuung, stellen Ehrenamtliche dar. Vielleicht sei das eine Option in allen Bereichen eine adäquate Pflegemix und Entlastung zu leisten und Angebote niedrigschwellig zu etablieren.
Die Videomitschnitte und Präsentationen stehen im Downloadbereich zur Verfügung. Der Zugang ist passwortgeschützt. Wenn Sie darüber nicht verfügen, senden Sie eine Mail an kompetenzzentrum@alzheimer-mv.de
Die Vortragenden
Prof. Dr. Gabriele Doblhammer
Frau Prof. Dr. Gabriele Doblhammer ist Inhaberin des Lehrstuhls für empirische Sozialforschung und Demographie an der Universität Rostock. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in Trends und Mustern der Gesundheit, Morbidität, Sterblichkeit und dem Pflegebedarf. Seit vielen Jahren ist sie forschend tätig an Instituten wie dem Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen.
Weitere Zugewinne in der Lebenserwartung werden vor allem von den Hochaltrigen kommen. Im Zentrum unserer Forschung stehen protektive Faktoren, die Morbidität und kognitive Beeinträchtigen verhindern oder in ein höheres Alter verschieben.
Lars Krychowski
Herr Krychowski ist jüngster Einrichtungsleiter eines Altenhilfezentrums im Diakoniewerk Kloster Dobbertin gGmbH. Darüber hinaus ist er der 1. Vorsitzende der Deutschen Alzheimer Gesellschaft Landesverband Mecklenburg-Vorpommern e.V..
Er befürwortet die Entlastung von pflegenden An- und Zugehörigen durch einen raschen Einzug von Pflegebedürftigen in die stationäre Langzeitversorgung.
Ich sehe Pflegeeinrichtungen nicht als bloße Bettenburgen, sondern als soziale Mittelpunktshäuser mit Tieren auf dem Hof und Tanzkursen im Speisesaal.
Daniel Lichy
Herr Lichy ist Projektleiter der Landesfachstelle Demenz der DAlzG LV M-V und freier Hochschuldozent. Als Philosoph und Politikwissenschaftler liegt sein Interesse in der Analyse dynamischer Veränderungen von Gesellschaften. Die Übertragung auf die Sozialräume der Kommunen und Quartiere und dort Veränderungen initiieren und praktisch im Sinne der kommunalen Daseinsvorsorge begleiten zu können, macht für Ihn den besonderen Reiz seiner Arbeit aus.
Wir haben kein Ideenproblem, sondern ein Umsetzungsproblem!
Sabine Uhlig
Frau Uhlig arbeitete im Bereich des barrierefreien Tourismus. Während es sie beeindruckte, wie neugierig, offen und belebt Menschen mit Demenz auf die Eindrücke bei Gästeführungen reagierten, sah sie auch Barrieren durch Unkenntnisse im Umgang mit diesen Teilnehmenden. Als Kulturgeragogin setzt sie seit 2016 Methoden z.B. bei Kunstführungen und -gesprächen mit Menschen mit Demenz und deren Lebensbegleiter:innen um. Dabei erlebt sie, wie Betroffene sich öffnen, biografische Erlebnisse assoziieren und sich voller Freude auf Phantasiegeschichten einlassen und eine neue Beziehungsebene zwischen Betroffenen und ihren Lebensbegleiter:innen entsteht.
“Das Vergessen vergessen, Vorstellungskraft nutzen!
Bärbel Ahrens ist im Vorstand der Deutschen Alzheimer Gesellschaft Landesverband MV.
Sie und der Inhaber und Koch des Rostocker Restaurants “Carlo615” haben zusammen in der Kochshow City Cooking von tv.rostock ein leckeres Gericht gekocht. Dabei erklärt Frau Ahrens was beim der Ernährung für Demenzerkrankte wichtig ist und berichtet auch von ihren eigenen Erfahrungen. Wir zeigen Ihnen die Aufzeichnung der Show.